Erdenend – Das Ende der Welt

„Das Wort Literatur birgt in sich bereits etwa Edles, Erhabenes! Nur einfach Wörter aneinanderreihen, sodass es lustig oder phantastisch klingt, erfüllt in meinen Augen noch nicht die Mindestvoraussetzungen für die Aufnahme in den heiligen Olymp der Literaten. Der Verfasser sollte auch ein Wortakrobat sein und Sätze schreiben, die noch nie zuvor ein Mensch gelesen hat.“

Michel, aus „Erdenend – Das Ende der Welt“

Matthias Grau, Kuschel und die Sommerferien

Erdenend – abenteuerlich, spannend, humorvoll und gesellschaftskritisch

Ende 2015 veröffentlichte Sunlion-Inhaber Matthias Grau seinen Debütroman „Erdenend – Das Ende der Welt“. Einige Passagen dieses Buches trug er schon mehrere Jahre als Ideen mit sich herum, bis er sie schließlich aufschrieb und eingebettet in aktuelle Ereignisse zu einer vollständigen Geschichte verband. Das Buch wirft einen analytischen Blick auf den derzeitigen Zustand der menschlichen Zivilisation, beinhaltet witzige und traurige Momente, spannende Episoden und entspannende Momente.


Leseprobe

Werner, der dank seines Vaters wohlhabende Hauptdarsteller des Romans, ist wegen seiner Freundin Sophie frustriert und verlässt die gemeinsame Wohnung, um seine reichen Freunde in einem Pariser Club zu treffen. Dort angekommen wird er für einen Moment alleingelassen, als einige der Mitglieder unten vor dem Haus die neueste Errungenschaft des Clubbesitzers bestaunen – einen italienischen Straßenflitzer. Werner nutzt diesen Umstand hemmungslos aus, um ein wenig in der Wohnung herumzustöbern. In einem alten Sekretär findet er ein Geheimfach und stößt darin auf ein paar interessante Familiengeheimnisse. Fast wird er dabei von Jean, dem Clubbesitzer und Wohnungseigentümer überrascht:

An der Wohnungstür suchte ein Schlüssel nach dem Schloss. Er kratzte über das Metall, während Werner in den Salon zurück­hastete, das Buch in den geheimen Kasten warf und ihn mit einem heftigen Stoß zurückschob. Dummerweise versagte sein Schließ­mechanismus, als draußen der Schlüssel bereits ins Schloss fuhr und die Sperrstifte einer nach dem anderen in die ihnen zuge­dach­ten Zähne einrasteten. Nur eine kurze Drehung des Zylinders trennte Werner noch vor Entdeckung, erst im letzten Moment, zusammen mit dem Geräusch der sich öffnenden Tür, rastete der geheime Kasten nach einem heftigen Schlag mit dem Handballen auf die Vorderseite ein.

„Wérnér!“ Jeans breites Grinsen wich einem Ausdruck des Erstaunens. „Warum sitzt du denn so verkrampft auf dem blöden Holzstuhl? Die Sessel sind doch viel bequemer!“ Werner hatte es geradeso noch geschafft, den Arm lässig auf die Schreibplatte zu lehnen und die Beine übereinanderzuschlagen, aber es sah eher aus, als hätte er schmerzhafte Rückenprobleme. Folgsam stand er auf und nahm wieder im Sessel Platz.

Auch Élaine und Michel betraten den Salon. „Das hättest du sehen sollen …“ Michel war sichtlich begeistert. „Ja eben, warum warst du nicht mit unten? Ich bin ein wenig verstimmt!“ Jean zog ein beleidigtes Gesicht. Die Wortwahl und der ironische Unterton verdeutlichten jedoch den wenig ernsthaften Charakter seiner Beschwerde.

„Ich mag diese protzigen Angeberkarren nicht“ rechtfertigte sich Werner kühl. „Und überhaupt, du als Franzose …“, mit einem Mal hatte Werner wieder das heikle Foto vor Augen. Es warf ihn für eine Sekunde aus der Bahn, sodass er ins Stottern geriet, „… äh … du … müsstest …“ Dann begann er den Satz noch mal von vorn: „Müsstest

du nicht etwas Französisches fahren? Du weißt schon, wegen der Arbeitsplätze und so?“ – „Ich würde auch etwas Guatemaltekisches fahren, wenn die so geile Autos bauen würden.“ Jean grinste breit. Er hegte keinerlei patriotische Gefühle, wenn es um den Fort­be­stand der Nation ging. Sehr verdächtig, dachte sich Werner. „Und wie steht‘s mit deutschen Autos?“ fragte er hinterlistig. „Aber gern! Ich kauf dir deinen Golf ab für …“ Er sah sich zu Michel um. „Was meinst du, wie viel ist der wert?“ – „Einen Euro“, antwortete der süffisant. „Nüscht“, giftete Élaine und verschwand Richtung Küche. „Wie kommst du gerade auf Guatemala?“, wunderte sich Werner. „Es gab mal eine Phase“, begann Jean, „da war mir langweilig. Wenn du nicht arbeitest und den ganzen Tag herumhängst, kommst du schnell auf dumme Ideen. Manche fangen dann an zu kiffen oder zu saufen. Ich wollte lieber eine Weltreise machen. Den Altertümern folgen – Ägypten, die Pyramiden. Und China, die Große Mauer. In Lateinamerika gab es uralte Städte, von denen man noch immer nicht genau weiß, wer sie einst erbaut hat. Das finde ich total spannend! Ich habe Hancock gelesen, ,Die Spur der Götter‘. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was er schreibt, dann stammen wir von …“, er rang nach Worten, „nun ja … nicht unbedingt von Außer­irdischen ab. Aber dann ist das, was die uns in der Schule beige­bracht haben, alles totaler Quatsch. Ich wollte mir das einfach mal mit eigenen Augen anschauen.“

Michel grunzte herablassend: „Hab ich auch gelesen, in meinen Augen alles nur Verschwörungstheorien. Absoluter Unsinn!“ Jean blieb gelassen: „Nur weil es eine Verschwörungstheorie ist, muss es nicht gleichzeitig auch Unsinn sein. Es bedeutet nur, dass es eine Theorie gibt, die auf eine Verschwörung hindeutet, nicht, dass sie falsch ist.“

Michel lenkte versöhnlich ein: „Na gut, okay! Du interessierst dich also für Geschichte? Das wusste ich ja noch gar nicht.“ – „Ja, echt jetzt, man könnte meinen, du interessierst dich für gar nichts.“ Werner schaute Jean provozierend in die Augen. Der ließ sich jedoch nicht darauf ein. „Ich interessiere mich für viele Dinge, nur häng‘ ich das nicht an die große Glocke. Ich mag zum Beispiel Literatur.“ – „Shakespeare?“ hakte Michel frech nach, der sich nun von Werners gutmütiger Randalierstimmung anstecken ließ. „Oder Perse? Rousseau vielleicht?“ – „Nein, die doch nicht“, entgegnete Jean. „Eher so was wie Robinson Crusoe. Oder die Anhalter-Serie von dem bekannten Science-Fiction-Autor Douglas Adams. Das erste Buch hab ich bestimmt schon zwanzigmal gelesen. Und ich könnte mich immer wieder kringeln vor Vergnügen.“ Sein Blick wurde glasig, ins Nichts gewandt. Er lächelte. „Oder Jules Verne, der hat doch spannende Bücher geschrieben.“

„Das ist doch keine Literatur“, rief Werner belustigt. „Na, da wären die Meister aber enttäuscht, könnten sie das hören“, warf Élaine spöttisch dazwischen, als sie sich mit hinzugesellte.

Michel schüttelte energisch den Zeigefinger: „Ich muss Werner da zustimmen. Das Wort Literatur birgt in sich bereits etwa Erhabenes, Edles! Nur einfach Wörter aneinanderreihen, sodass es lustig oder phantastisch klingt, erfüllt in meinen Augen noch nicht die Mindestvoraussetzungen für die Aufnahme in den heiligen Olymp der Literaten. Der Verfasser sollte auch ein Wortakrobat sein und Sätze schreiben“, jetzt wechselte sein Gesichtsausdruck von ernsthaft zu schelmisch, „die noch nie zuvor ein Mensch gelesen hat.“ – „Faszinierend“, erwiderte Jean, nun ebenfalls erheitert. „Aber damit sind wir ja mittendrin in der Science-Fiction. Jules Verne!“

„Wenn du reisen wolltest und auf Jules Verne stehst, warum schnappst du dir nicht mal seinen Reiseroman, klapperst die beschriebenen Orte ab und umrundest die Erde in achtzig Tagen?“ fragte Élaine und lehnte sich zu Jean hinüber. „Weil ich dann in drei Tagen wieder hier wäre. Mit dem Jet bist du doch in Nullkomma­nix einmal rum. Außerdem hatte ich nach meiner Kenia-Reise die Nase

gestrichen voll. Überall Armut und schlimmste Korruption. Wenn du nicht mal mehr einem Polizisten trauen kannst, dann steckt das Land in echten Schwierigkeiten. Und so sieht es ja in vielen Ländern aus.“ – „In drei Tagen bist du ganz sicher nicht wieder hier, den Jet kannst du auch nicht nehmen, wenn du den Spuren des Roman folgen willst“, gab Élaine zu bedenken.

Jeans Entgegnung wurde durch das Klingeln an der Tür unter­brochen. Keiner rührte sich. Nach ein paar Sekunden klingelte es entsprechend der Übereinkunft dreimal. „Das ist Béatrice.“ Sie vergaß immer, den Geheimcode zu nutzen und korrigierte den Fehler sogleich. Jean ging zur Tür und öffnete. Im Treppenhaus war Gelächter zu hören. „Sie hat noch jemanden dabei.“ Nach wenigen Augenblicken erreichten die Neuankömmlinge den Treppenabsatz und stiegen die letzten Stufen zum Club hinauf.

„Nanu? Habt ihr euch zufällig unten getroffen?“ fragte Jean verwundert. Béatrice hatte noch Léon und Julian mitgebracht, alle drei waren seit langem schon Clubmitglieder. „Neeeiiin … wir haben auch die Nacht zusammen verbracht!“ Béatrice kicherte kokett und betrat, vielsagend mit der Hüfte wackelnd, den Salon. Sie konnte furchtbar anzüglich sein. Ihren beiden Begleitern war das sichtlich unangenehm. Jeans weit aufgerissene Augen und seinen offen­stehenden Mund beantwortete Julian nur mit einer abwehrenden Handbewegung. „Da war nichts, wir haben auf der langen Eckcouch geschlafen.“ – „Mach mir doch nicht immer alles kaputt!“ schmollte Béatrice. Und zu den anderen gewandt: „Hey Jungs! Schon auf den Beinen?“ – „Es ist fast Mittag!“ Werner schüttelte den Kopf. „Oh …!“ Léon warf einen Blick auf sein Handgelenk, stellte fest, dass er seine Uhr bei Béatrice auf dem Couchtisch vergessen hatte, griff sich ersatzweise Julians Arm und schaute auf dessen Uhr. Halb Zwölf. „Und die geht auch wirklich nicht vor?“ – „Hör mal, wenn wir Schweizer etwas können, dann sind das Uhren!“ Die ironisch-pikierte Nuance von Julians Antwort entging Léon, er hatte sich noch nicht von der alkoholbedingten Beinahe­vergiftung des letzten Abends erholt und stank extrem nach Fusel.

Julian war Zürcher und Sohn eines Privatbankiers. Er hatte in der Firma seines Vaters ganz unten angefangen, sich schnell und ohne protegiert worden zu sein hochgearbeitet und sammelte lei­denschaftlich gern Uhren, bevorzugt die einer namhaften Manu­fak­tur aus dem Vallée de Joux. Besonders deren „Oldtimer“, die Uhren aus den Anfangstagen, hatten es ihm angetan. Er war so verrückt danach, dass er tatsächlich immer zwei Armbanduhren trug, die eine am linken Arm, die andere rechts.

„Setzt euch! Ich hole noch ein paar Stühle.“ Jean entschwand in einen der Nebenräume. Die anderen nahmen Platz, nur Léon war etwas zu langsam und schaute ratlos im Raum stehend umher. Jean kam mit den Stühlen, er schob einen zu Léon und setzte sich selbst auf den anderen.

Sie schauten einander an. „Wie in einer Selbsthilfegruppe“, Béatrice lachte. „Was habt ihr gerade gemacht?“ Und an Élaine gerichtet: „Gibt‘s was zum Mittag?“ – „Geht gleich los. Wir waren noch mit Reiseplanungen beschäftigt. Jean will die Welt umsegeln.“ – „Na, na, na … niemand segelt hier irgendwo hin, und ich schon mal gar nicht!“ Jean schlug die Beine übereinander. „Wir haben über Li­te­ra­tur gesprochen“, erläuterte Jean den drei Hinzugekommenen, „aber eigentlich ging es ganz allgemein um meine Interessen. Wie sind wir da noch mal drauf gekommen? Ach egal, wir waren zuletzt bei Jules Verne.“ – „Sag ich doch, du wolltest den Spuren des Ro­mans folgen. In achtzig Tagen um die Welt“, nahm Élaine den Faden wieder auf. „Was? Jean will wieder verreisen?“ Julian war sichtlich überrascht. „Hattest du es nicht aufgegeben?“ Nun reagierte Jean deutlich genervt: „Sagt mal, habt ihr was an den Ohren? Ich verreise nicht! Aber wenn du mich einlädst, besuche ich dich gern mal in der Schweiz!“ – „Coole Idee, warum fahren wir nicht mal alle zu­sam­men? Mein Vater hat ein Landhaus in der Nähe von Zürich, dort ist Platz für uns alle.“

Julian schaute fragend in die Runde. „Also ich erst mal nicht, die Schweizer sind in letzter Zeit so unfreundlich.“ – „Tja, Werner, das kommt, weil ihr Deutschen da mittlerweile in Rudeln auftretet. Au­ßer­dem mögen wir es nicht, wenn man uns den Dialekt verbieten will. Verschtohsch?“ – „Wer tut denn das? Also ich nicht!“ Werner war empört. Nun tippte sich Julian auf die Brust: „Ich wurde auch schon von Deutschen gebeten, ob ich nicht hochdeutsch sprechen könnte.“ – „Ach so! Also ich glaube, das ist ein Missverständnis! Dazu musst du wissen, die meisten Deutschen in Deutschland sprechen gar kein Hochdeutsch, sondern den jeweiligen lokalen

Dialekt. Manche davon sind mehr und einige weniger gut ver­ständ­lich. Es gibt Orte im Norden, wenn du dort in die Dorfkneipe gehst und mit Älteren redest, verstehst du selbst als Deutscher kein Wort mehr. Wir nennen das Plattdeutsch. Und auch in manch abge­le­gen­en bayerischen Berg­dörfern kommt man sich oft vor wie ein Aus­länder.“ Julian lauschte interessiert. Werner erklärte: „Hochdeutsch ist ja nichts anderes, als eine von Dialekten bereinigte Sprache, die dazu dient, sich mit Menschen anderer Regionen verständigen zu können. Wenn also ein Deutscher mit einem Schweizer Hoch­deutsch spricht, ist das im Grunde ein Ausdruck der Höflichkeit, denn er möchte ja verstanden werden. Und du kannst nun selbst entscheiden, ob du diese Höflichkeit erwidern willst oder ob du lieber unhöflich bist.“ Werner hatte den Ball geschickt an Julian zurückgespielt. Der fühlte sich von dieser unerwarteten Wendung völlig überrumpelt und versuchte, das Gehörte einzuordnen.

Élaine kam ihm zuvor. „Also hier hättest du mit deinem Hoch­deutsch niemanden beeindrucken können.“ Sie war schon wieder schnippisch. „Deswegen spreche ich ja auch Französisch“, ant­wor­tete Werner gutmütig. Seit er Élaine zurückgewiesen hatte, war eine normale Verständigung mit ihr schwierig geworden. „Das ist auch der einzige Grund, warum du hier überhaupt reingekommen bist. Ohne Sophie sowieso nicht, und aufgrund deiner akzentfreien Aussprache habe ich erst gar nicht gemerkt, dass du Deutscher bist.“ Jean drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. „Eigentlich bist du ja auch viel zu alt für uns. Schon über dreißig, meine Güte!“ – „Nicht alt … erfahren“, nahm Béatrice Werner in Schutz. „Jungspunde wie ihr haben bei richtigen Frauen doch gar keine Chance!“ Sie formte mit der Hand ein Figürchen, dass auf zwei Finger-Beinen über die Armlehne des Sessels in Richtung Werners Oberschenkel tippelte. Der klatschte rücksichtslos mit der Hand drauf, traf aber nur sich selbst, da Béatrice damit gerechnet und ihre Hand schnell zurückge­zogen hatte. Dennoch war sie gekränkt. „Was ist denn nun mit dem Essen? Ich habe wirklich Hunger! Élaine?“ – „Okay, dann los.“ Élaine erhob sich. „Ich komme mit!“ Béatrice wusste von den Misstönen zwischen Werner und Élaine und hielt natürlich zu ihr. Die beiden Frauen hakten sich unter und stampften in Richtung Küche. Béatrice warf noch einen vernichtenden Blick zurück zu Werner. Wie zwei Amazonen auf Kriegspfad, schoss es ihm durch den Kopf. Hof­fent­lich bewaffnen die sich nicht am Messerblock, dann komme ich hier wohl nicht mehr lebend raus.

„Eigentlich keine schlechte Idee, so eine Weltreise nach An­lei­tung. Es wäre doch sicherlich interessant herauszufinden, wie sich die Welt in all den vielen Jahren verändert hat.“ Und mit Blick auf Jean: „Von wann stammt der Roman?“ Der stand auf, „Moment!“ Er ging in die Bibliothek und suchte dort einige Minuten lang herum. Dann kehrte er mit dem Buch zum Tisch zurück und schlug es ein paarmal gegen die Handfläche. Eine kleine Staubwolke explodierte in den Raum hinein und überzog die Anwesenden. „Um Himmels Willen, Jean!“ Léon war schlagartig nüchtern. Er hatte das Meiste abbekommen und hustete. „Ich bin allergisch, Mensch!“ Seine Augen fingen an zu tränen, es schien ihm ernst zu sein. „Komm mit, du hast sowieso ‘ne Dusche nötig.“ Julian zog ihn weg und nötigte ihn ins Badezimmer.

Die anderen klopften ihre Kleidung ab, Jean pustete den Staub vom Tisch. „Den Rest kann die Putze machen. Bei der Gelegenheit kann sie sich auch gleich mal das Bücherregal vornehmen, der Staub wird wohl noch von vor der Renovierung sein.“

Er legte das Buch auf den Tisch und blätterte oberflächlich ein paar Seiten durch. „Hier steht‘s doch, eine Reiseliste.“ Er überflog die Zeilen, nannte ein paar Eckpunkte: „London, Suez, Mont-Cenis … noch nie gehört, wo ist das denn?“ – „In den Alpen“, erklärte Julian. „Da war ich schon mal im Urlaub, schöne Gegend!“ Jean schaute wieder auf das Buch: „Brindisi … klingt nach Italien.“ Bombay und Kalkutta fasste er mit „Indien“ zusammen. „Hongkong, Yokohama, San Francisco, New York … und wieder London. Augenblick, das will ich jetzt aber genauer wissen!“

Erneut stand er auf und ging hinüber zur Bibliothek. Diesmal kam er mit einem halb zerfallenen, abgewetzten Buch zurück. „Putzgers Historischer Schul-Atlas. Herausgegeben 1900. Auf Deutsch!“ Triumphierend wedelte er Werner damit vor der Nase herum.

Keine Staubwolke. Er hatte das Werk mit einem Handfeger vom Gröbsten befreit. „Weiß der Geier, woher die alte Dame den hatte.“ Werner sah wieder das geheime Foto vor sich und konnte nur mit Mühe eine Anspielung unterdrücken. Er lenkte seinen Sarkasmus stattdessen in eine andere Richtung: „Von 1900? Etwas Älteres konntest du nicht finden? Ein bemaltes Fell aus der Höhle von Lascaux vielleicht?“ Jean griff sich gespielt-irritiert den Roman und schaute nach dem Erscheinungsdatum der Erst­auflage: „1873. Nein, ich denke, das Fell wäre zu alt.“

Schallendes Gelächter. Die von Jean zur Schau gestellte Selbst­sicherheit war immer wieder beeindruckend. Eine bemerkenswerte Robustheit der Seele, wie sie nur wenigen Menschen zu eigen ist. Vielleicht aber auch nur eine der Folgen seines Reichtums, der sicher­stellte, dass Jean elegant und nahezu unantastbar über den Dingen schwebte und sich nicht mit Alltagsproblemen und den schlechten Manieren all der Menschen auseinandersetzen musste, die einem Normalsterblichen den Alltag gründlich vermiesen können und mit der Zeit der Seele nur schwer wieder zu behebenden Schaden zufügen.

Er schlug den Atlas auf. Palestina. Falsche Karte, sie befanden sich ja in Paris. Die alte Welt, Westlicher Teil. Er öffnete die Karte und orientierte sich an den Umrissen der Kontinente. Gallia. Iberia. Merkwürdig! Die nächste Karte zeigte den Kaukasus, das Kaspische Meer und einen Teil Arabiens. Jean verstand noch immer nicht. Bei der Karte ,Reich Alexander des Großen‘ dämmerte ihm, was er da in der Hand hielt. Bei ,Entwicklung des römischen Reiches‘ war er sich sicher. „Verdammt, das sind ja uralte Karten. Es müssen doch auch …“ Er blätterte weiter, nach Frankreich suchend. Europa im 16. Jahr­hundert. „Viel zu grob, da erkennt man ja gar nichts.“ Tatsächlich waren die Karten zu klein, eine Übersicht aller Kontinente fehlte gänzlich. Der Atlas behandelte nur regionale geschichtliche Ereignisse vom Altertum bis kurz vor dem Erscheinungsdatum.

Jean legte ihn zur Seite und holte seinen Laptop, dessen Monitor war sogar größer als das Buch. Er rief eine Landkarte im Inter­net auf und suchte nach dem aktuellen Standort. „Na also, geht doch!“ Zufrieden studierte er die Karte und schob sie mit dem Touchpad weiter. „Schaut mal, das muss man doch gar nicht so kompliziert machen. Einfach immer nach Osten, dann kommt man genau hier wieder an. Was folgt denn als erstes … oh je … Deutsch­land!“ Er zog mit Blick auf Werner ein angewidertes Gesicht, doch der lächelte amüsiert und schlug vor: „Nimm doch die Schweiz!“ – „Gute Idee! Also etwas weiter südlich: Schweiz, Liechtenstein, Öster­reich.“ Er schob die Karte nach links. „Ungarn! Mhmm – ich liebe Budapest! Und die ungarische Sprache mag ich auch, die klingt richtig angenehm. Ich hab dort mal eine tolle Frau kennengelernt, sie war wirklich eine Schönheit. Dunkle Haare, temperamentvoll und zugleich zurückhaltend. Außerdem lief sie immer barfuß. Leider konnte ich nicht bei ihr landen.“ – „Lag vielleicht an deinen schmutzigen Schuhen“, ätzte Michel und erntete dafür eine Kopfnuss.

„Wenn du Ungarisch magst, kann ich dir gern eine CD geben“, bot Julian an, „die hab ich von meinem Vater, und der hat sie von einem ungarischen Geschäftspartner. Omega, eine ungarische Rockband, ist auch im Westen recht bekannt. Echt coole Musik mit ungarischen Texten. Klingt etwas schräg, wenn man sie zum ersten Mal hört, aber das legt sich schnell.“ Er war aus dem Bad zurück­gekehrt, wo er Léon in die Wanne verfrachtet und mit Handtüchern versorgt hatte.

„Okay, hör ich mir gern an.“ Dann machte Jean weiter mit: „Ru­mänien. Und hier, das Schwarze Meer! Was wohl schneller geht, mit dem Boot übersetzen oder im Norden durch die Ukraine?“ – „Zu gefährlich, das ist Krisengebiet“, gab Werner zu bedenken. „Also übers Meer. Georgien. Und was kommt dann? Noch ein Meer! Da­hinter kommen die ganzen Dingstans – Kasachstan, Usbekistan und so weiter. China, die Mongolei …“ – „Vielleicht wäre es doch besser, weiter nördlich zu reisen? Dann musst du nicht so viele Staaten durchqueren und bleibst immer in Russland“, überlegte Werner.

„Wieso ich? Das hatten wir doch schon geklärt! Wie wär‘s statt­dessen mit dir? Du hast immerhin einen deutschen Pass. Damit kommst du fast überall hin, auch ohne Visum. Wie das mit meinem ist, weiß ich gar nicht so genau.“

Hier konnte Julian weiterhelfen: Deutschland liege mit 172 visafreien Staaten zwei Länder vor Frankreich, der Schweizer Pass sogar noch zwei Länder dahinter. „Ihr Schweizer dürft nur vier Länder weniger bereisen als wir? Das ist mir ja völlig neu!“ Werner war ehrlich erstaunt. „Also, was ist?“ hakte Jean nach, „traust du dich? Sophie lässt dich doch eh nicht ran, dann kannste auch reisen!“ Breites Grinsen. „W… wieso denn jetzt ich?“

„Schau mal, als nächstes kommt schon Japan, wolltest du da nicht schon immer mal hin?“ –„Ja eben“, hakte Michel sich un­ver­mittelt ein, „wegen deines Karatekrams hast du doch früher immer davon erzählt. Machst du das eigentlich noch?“ Werner verneinte. „Das war noch in Deutschland, und wegen der vielen Verletzungen habe ich es irgendwann aufgegeben. Japan wäre allerdings schon interessant. Eine wirklich außergewöhnliche Kultur.“

Jean schob wieder an der digitalen Karte herum. „Danach kommt erst mal lange nichts, da solltest du gut schwimmen können. Und dann – Ladies and Gentlemen – folgt Kalifornien! Heiße Mädels, knappe Bikinis, Sonne, Strand und Drogen­partys. Wérnér! Endlich wieder Sex!“ – „Du bist fast schon genauso schlimm wie Béatrice“, wehrte Werner ab. „Was machen die beiden eigentlich?“

Leichter Bratenduft drang bis in den Salon vor. Michel erhob sich und lief in die Küche. Sekunden später schaute er durch den Tür­rahmen zurück. „Fast fertig, ihr könnt schon kommen!“

„Oh, das duftet aber gut. Was genau ist das?“ Julian versuchte, durch das Herdfenster etwas zu erkennen, als Béatrice die Zutaten aufzählte: „Schnitzelpfanne – das Fleisch in Streifen geschnitten, mit Paprika, Zucchini und Pilzen. Dazu eine Sahne-Senf-Soße.“ – „Und was für Pilze sind da drin?“ erkundigte sich Michel besorgt. „Keine Ahnung, hab sie im Wald gesammelt. Sie sind ganz leicht zu unterscheiden: Es gibt giftige und ungiftige. Iss am besten nur die ungiftigen, die giftigen lässt du einfach weg.“

Werner entscheidet sich doch, die Reise anzutreten und durchquert die Schweiz, Österreich, Ungarn und landet als nächstes in Rumänien, ein Land von dem er keinerlei Vorstellungen hat, außer seine über die Jahre gewachsenen Vorurteile. Er übernachtet im Auto, wird von Bauarbeitern geweckt, muss einer Pensionswirtin erklären, warum er nebenan im Auto übernachtete und realisiert zum ersten Mal ganz bewusst, welche Auswirkungen das schmutzige Geschäft seines Vaters auf andere Menschen hat. Eine bittere Erkenntnis, die ihn einige Tage später noch einmal schmerzhaft überwältigen wird und ihn mit seinen schlimmsten, lange verdrängten Kindheitserinnerungen konfrontiert. Beim nächsten Grenzübertritt macht ihm ein moldawischer Grenzbeamter wegen seines Autos Schwierigkeiten:

Es war bereits dunkel, als Werner den Grenzübergang erreichte. Der mürrische Beamte wies den Personalausweis zurück, was Werner zu hektischer Suche im Gepäck veranlasste. Schließlich fand er seinen Reisepass und reichte ihn hinüber. „Sie brauchen auch eine Vignette!“ Der Mann deutete auf eine Zollbaracke. Dann ließ er Werner vorbei, nicht ohne hinterherschauend zu kontrollieren, ob der Besucher auch tatsächlich seine Anweisung befolgte.

Der Zollbeamte studierte ausgiebig Reisepass, Führerschein und die französischen Zulassungspapiere des Fahrzeugs und machte einen unerfreuten Eindruck. „Da passt ja überhaupt nichts zusammen. Ich kann Ihren Name nicht auf der Zulassung finden.“ – „Der ist auch nicht auf mich zugelassen, er gehört einem Freund …“, Werner legte sich den Namen „Jean“ auf der Zunge zurecht, als er auf dem amtlichen Papier mit dem Zeigefinger die entsprechende Spalte suchte. Inès Bertrand. Wer zum Teufel war Inès Bertrand? Jean hatte sich anscheinend nicht die Mühe gemacht, das Fahrzeug umzumelden, und nun stand ein völlig fremder Namen in dem Dokument. „… oder … äh … genauer gesagt, er gehört der Freundin eines Freundes.“

Werner kam jetzt ziemlich ins Schleudern. Freundin eines Freundes? Noch unglaubwürdiger ging es wohl kaum! Hitze­wellen rollten aus der Magengegend hinauf bis in den Kopf und trieben ihm den Schweiß auf die Stirn.

„Sie haben also keine Vollmacht für die Benutzung dieses Fahrzeugs?“ – „Doch, habe ich natürlich, nur … halt nicht … schriftlich“, stotterte Werner. Der Beamte schob seinen massigen Körper mit strengem Blick hinter dem Schalter hervor und ging nach draußen, um das Fahrzeug in Augenschein zu nehmen. „Na wenigstens stimmen die Nummernschilder“, meckerte er herum.

„Trotzdem, woher soll ich wissen, ob die Karre wirklich Ihnen gehört?“ – „Mir gehört sie ja nicht, das wissen wir doch schon.“ Werner hatte die Fassung wiedergefunden. „Jaja, sicherlich“, eierte nun der Beamte herum, „aber woher soll ich wissen, ob Sie das Auto nicht geklaut haben?“ – „Wirklich? Das alte Ding? Der Wagen ist dreißig Jahre alt! Sehe ich aus, als würde ich Oldtimer sammeln?“ fragte Werner amüsiert.

Der Beamte wurde nun sauer: „Sie wollen nicht wirklich wissen, was ich denke, wie Sie aussehen! Schluss jetzt, das Fahrzeug bleibt hier, besorgen Sie sich eine amtlich beglaubigte Vollmacht, dass Sie das Auto benutzen dürfen.“ Er blickte Werner triumphierend in die Augen. Doch dem war das Ganze bereits völlig egal. Er schaute noch einmal zu seinem dunkelgrünen, treuen Begleiter hinüber, dann holte er seine Tasche aus dem Fond und erwiderte kühl: „Na schön, dann bleibt es eben hier. Ich kann auch zu Fuß weitergehen und mir ein neues Auto kaufen. Alles Gute!“ Er drehte sich um und schickte sich an, den Kontrollbereich zu verlassen.

Hinter seinem Rücken hub plötzlich furchtbares Gezeter an: „Bleiben Sie gefälligst hier, Sie Halunke, das fehlte noch, wo gibt‘s denn so was?“ Der Zollbeamte stand breitbeinig und mit erhobener Faust herumfuchtelnd neben dem Fahrzeug und schrie: „Das hätten Sie wohl gern, dass Sie Ihre Schrottkarre hier entsorgen dürfen, was? Und wir müssen uns dann darum kümmern! Das können Sie vergessen!“ Schimpfend begab er sich wieder hinter seinen Schalter, fingerte eine Vignette aus seiner Mappe und rief: „Das kostet Sie zehn Euro, her damit! Und jetzt verschwinden Sie!“

Den Trick muss ich mir merken, notierte Werner sich ins Gedächtnis.

Doch so richtig haarig wird es für Werner erst am nächsten Grenzübergang zwischen Moldawien und der Ukraine. Da wird er nämlich leider erschossen. Oder etwa doch nicht?

Hinter dem Grenzübergang studierte Werner die Karte nach dem günstigsten Ziel für die Fortsetzung seiner Reise und entdeckte Odessa als ihm bekannten Namen. Er gab den Ort in die Navigation seines Handys ein und stellte erfreut fest, dass er noch vor Mitter­nacht dort sein könnte. Im Gegensatz zum Vorabend fühlte er sich heute frisch und, angestachelt durch die glückliche Wendung in der Zollbaracke, auch voller Tatendrang. Übermütig trat er das Gaspedal bis zum Boden durch, dennoch zuckelte der Motor eher gemütlich vorwärts. Am Anschlag bei 120 blieb die Tachonadel stehen, man hatte zwar den Motor aufgerüstet, die Instrumente hingegen bei­behalten. Das obligatorische Hinweisschild auf die Verkehrsregeln des besuchten Landes kurz hinter dem Grenzübergang bremste Werners Übermut gleich wieder aus, noch eine Konfrontation mit der Staatsmacht wollte er lieber vermeiden. Auch die Dunkelheit und die müde vor sich hin glimmenden Scheinwerfer leisteten ihren Beitrag, sodass sich die Geschwindigkeit letztendlich bei un­ver­dächtigen 70 Kilometern pro Stunde einpendelte.

Außerhalb des Wagens war es mittlerweile stockduster, nirgends auch nur ein einziges Licht zu erkennen. Die Landschaft schien sich wieder flach und weit auszudehnen, soweit das an den knapp zu erkennenden Feldrändern zu erraten war. Erst die kleinen Dörfer links und rechts der Straße brachten wieder etwas mehr Licht ins Dunkel, wenn auch nur durch die Zimmerbeleuchtung, welche behaglich durch die Fenster nach außen schien. Die Straßen selbst hatten keine Laternen, und so war es einerseits den im Schein­werfer­licht aufleuchtenden Augen, andererseits auch dem Glück zu verdanken, dass nichts unter die Räder kam. Denn die freilaufenden Hunde und Katzen in den Ortschaften waren meist schon von Weitem zu erkennen, der einsame Waschbär jedoch, der Werners Weg kreuzte, verdankte sein Leben der einen Zehntelsekunde, die er schneller war als das Auto, denn Werner sah ihn erst im letzten Moment rechts am Vorderrad vorbeiflitzen, als es für jede Reaktion bereits zu spät war.

Mit Tiraspol erreichte Werner die erste größere Stadt, von geringer Ausdehnung zwar, dafür aber mit den großen und repräsentativen Gebäuden, die eine Stadt ausmachen und die sehr an sowjetische Zeiten erinnerten, zumindest was Baustil und kyrillische Aufschriften anging. Bis Odessa war der Weg jedoch nicht mehr weit, darum verzichtete Werner auf eine genauere Inspektion und ließ die Stadt hinter sich.

Die Grenze sollte jeden Augenblick in Sichtweite kommen, er starrte angestrengt durch die Frontscheibe, dann endlich tauchte im Scheinwerferkegel ein spärlich beleuchteter Platz mit zwei winzigen Bretterbuden auf. Daneben standen Männer in verschiedenfarbigen Uniformen. Werner rollte langsam heran.

Es waren moldawische und ukrainische Grenzbeamte, die sich lachend unterhielten und miteinander diskutierten. Den nächtlichen Besucher in militärischem Dunkelgrün beachteten sie gar nicht. Werner hielt ein paar Sekunden an, erwartungsvoll zu den Beamten hinüberblickend, dann ging er davon aus, damit der Höflichkeit hinreichend Genüge getan zu haben und fuhr langsam davon.

Die Grenzbeamten schauten erstaunt und ungläubig dem fliehenden Militärfahrzeug hinterher. Angesichts von soviel kalt­schnäuziger Frechheit und Mangel an Respekt musste ein Exempel statuiert werden, damit durfte er nicht durchkommen! Sie griffen nach ihren bereitstehenden Maschinenpistolen und jagten den Inhalt ihrer Magazine dem in der Ferne verschwindenden Fahrzeug hinterher. Wie Laserstrahlen durchschnitt die Leuchtspurmunition die Nacht und suchte sich ihr Ziel. Die ersten Geschosse platterten in die blech­erne Rückwandklappe des Fahrzeugs, direkt über der Stoßstange. Die Schützen hatten ihre Gewehre anscheinend noch nicht richtig ausgerichtet. Die nächste Salve durchdrang mühelos die Dach­plane, zersägte Scheiben und Rahmen zu rasier­messer­scharfen Splittern, welche derart beschleunigt den Innenraum in eine grauenhaft tödliche Falle verwandelten. Weitere Geschosse durchschlugen die Rückbank und zerfetzten die Vordersitze, ließen Knochen zersplittern und Gefäße zerreißen. Blutfontänen spritzten pulsierend meterweit aus dem geschundenen, durchlöcherten Körper. Werner spürte, wie sich sein von Schrapnellen perforierter Schädel in Strömen von Blut allmählich vom Rumpf trennte und noch im Fallen begriffen von nachfolgenden Projektilen zer­schmettert und zerstäubt wurde, während seine Gedanken und Erinnerungen in den unterschiedlichen Gehirn­arealen voneinander Abschied nahmen, als kleine graue Klumpen umherflogen und der Redewendung ,total zerstreut sein‘ eine ganz neue Bedeutung verliehen.

„Ich sollte weniger Horrorfilme gucken, das ist ja gruselig“, raunte Werner grimmig und setzte seinen Weg ungehindert fort.

Werner durchquert die Ukraine, wird dabei fast von einer Granate getroffen und erlebt den schwelenden Bürgerkrieg hautnah statt nur im Fernsehen. Ohne Visum versucht er, die Grenze nach Kasachstan zu überqueren, was ihm eine Festnahme bescherte. Beim Verhör erlebt er deshalb so einige Überraschungen:

Der Verhörraum war klein, weiß und fensterlos. Über der holz­imitierenden Kunststofftischplatte mit daruntergeschraubten, gummiüberzogenen Stahlbeinen summte leise eine Leucht­stoff­röhre. Nach nur wenigen Minuten betrat ein Mann in Uniform den Raum und setzte sich zu Werner an den Tisch. „Guten Tag. Major Wolkow von den russischen Grenztruppen.“ Er las sich das Kurz­proto­koll des kontrollierenden Grenzbeamten durch, schaute sich Werners Papiere an, dann fragte er: „Sie sind Deutscher? Woher stammen Sie? Aber Sie leben in Frankreich? Und was ist der Grund Ihres Aufenthalts?“

Der Offizier sprach wie viele Militärs knapp und präzise. Werner hatte dennoch Mühe, den Fragen zu folgen, denn er rätselte noch immer an einem einzelnen Detail der Begrüßung des Mannes herum. Russische Grenztruppen? Und als er schließlich darauf einging, klang seine Frage unhöflicher, als er eigentlich beabsichtigt hatte: „Und was bitte ist der Grund Ihres Aufenthalts?“

Major Wolkow war ein seriöser Mann und seit über dreißig Jahren als Grenzbeamter tätig. Die lange Erfahrung im Umgang mit schwierigen „Patienten“, wie er problematische Fälle gern be­zeich­nete, stellte sicher, dass ihn so schnell nichts aus der Ruhe brachte: „Sie haben einen Grenzübertritt ohne Einreisevisum versucht, und mich interessiert nun, warum. Also?“ – „Ich habe in den Reise­hin­weisen des Auswärtigen Amtes nachgesehen, dort steht, man be­nö­tigt inner­halb der ersten fünfzehn Tage kein Visum für Kasachstan.“ Der Offizier musterte Werner einen Augenblick lang, dann klopfte es an der Tür. Ein Mitarbeiter brachte Werners Sachen, flüsterte dem Major etwas zu, was dessen Augenbrauen vor Erstaunen zu Höhen­flügen veranlasste und verließ gemächlich den Raum.

„Sie können sich wieder anziehen!“ Der Mann reichte Werner seine Kleidung und blätterte derweil im beschlagnahmten Reise­atlas. Er schlug eine Seite auf, drehte sie zu Werner hin und deutete mit dem Finger auf eine Stelle. „Hier ist Mariupol. Von dort sind Sie gekommen. Und nun folgen Sie mal der Strecke.“ Sein Finger glitt an

der Route entlang. „Hier ist der Grenzübergang. Und welches Land folgt anschließend?“ Werner schaute ungläubig auf die von oben nach unten verlaufenden Buchstaben und wurde blass. Russland! Er hatte übersehen, dass die Russische Föderation bei Wolgograd noch einen gehörigen Schlenker runter bis nach Georgien machte. Die dünnen Linien der Grenzverläufe waren ihm auf dem kleinen Display seines Handys gar nicht aufgefallen. „Und nun noch einmal – was ist der Grund Ihres Aufenthalts?“

Als Werners Geschichte endete, trug der Major einen äußerst argwöhnischen Gesichtsausdruck zur Schau. Werners Un­schulds­miene erstarb, als der Major ein Bündel mit Geldscheinen auf den Tisch warf. „Das haben meine Mitarbeiter unter Ihren Einlegesohlen gefunden.“ Er holte tief Luft, erhob sich, legte die Arme auf den Rücken und begann, im Raum umherzulaufen. „Und unser Drogen­spür­hund hat im Inneren Ihres Fahrzeugs angeschlagen. Es wurde zwar nichts gefunden, aber es bedeutet trotzdem, dass sich in dem Auto mal Drogen befunden haben müssen. Vielleicht stammt das viele Geld ja daher? Wissen Sie, wir sind momentan sehr skeptisch gegenüber Besuchern aus dem Westen. Sie haben einen deutschen Pass, fahren ein nicht auf Sie zugelassenes russisches Fahrzeug mit französischen Nummernschildern. Haben mehrere tausend Euro in den Stiefeln versteckt. Drogenspuren im Fahrzeug. Und Sie haben versucht, ohne Visum die Grenze zu übertreten. Wie bitte soll ich das alles nun interpretieren? Handeln Sie mit Drogen? Sind Sie vielleicht ein Agent? Verstehen Sie was ich meine? Unterstützen Sie regierungsfeindliche Organisationen?“

Das brachte Werner gefährlich in Wallung. „Sie meinen oppo­si­tio­nelle Bewegungen?“ fragte er höhnisch zurück. „Und wenn es so wäre? Sie schicken doch auch Ihre Panzer in die Ukraine, als Unter­stützung für die Separatisten!“ Er erschrak über sich selbst. War das nicht etwas leichtsinnig? Sei lieber auf der Hut, das kann für dich gefährlich werden!

Der Major nahm wieder Platz. Die Tür öffnete sich und ein Mann in Zivil betrat den Raum, einen Stuhl in der Hand. Er setzte sich wort­los, seitlich von Werner, mit an den Tisch, stützte die Ellen­bogen auf und legte sein Kinn auf die Fäuste. Dabei schaute er zwischen den beiden Kontrahenten hindurch an die gegen­über­liegende Wand.

Der Major lehnte sich völlig unbefangen zurück und fragte: „Woher haben Sie diese Information?“ – „Na, das steht doch überall in den Zeitungen. Im Fernsehen kommt es auch.“ –„Haben Sie‘s überprüft? Woher wissen Sie, dass es die Panzer tatsächlich gibt?“ Werner war verwirrt. Warum sollte er Nachrichten überprüfen? Wie soll das gehen?

Als ob der Major es aus Werners Gesicht herauslesen konnte, lieferte er gleich nach, und sein zackig-militärischer Sprachstil wandelte sich in die Worte eines Menschen, dessen Gedanken angesichts der bedrohlichen Zukunft von tiefer Sorge erfüllt sind: „Sicher, persönlich hier vorbeizuschauen, ist eine Möglichkeit. Etwas einfacher aber wäre es, auch die Meldungen der Gegenseite zu lesen. Oder im Internet nach weiteren Alternativen zu suchen, die sich auf Nachrichten spezialisiert haben. Wenn je eine Zeit ex­is­tierte, in der es Informationen im Überfluss gab, dann ist das heute. So können Sie eine Situation von verschiedenen Seiten betrachten, um sie abschließend zu bewerten. Ich selbst lese jeden Tag mehr als dreißig Online­zeitungen, linke und rechte, russische und ameri­kanische. Auch ukrainische natürlich. Wussten Sie, dass in der Ukraine in den letzten Jahren nur Großunternehmer an der Macht waren? Die Politik wurde durch mafiöse Clans, korrupte Akteure aus dem Energie- und dem Banken­sektor gestaltet, zu deren Gunsten natürlich. Sie kontrollieren die Massenmedien und herrschen über gigantische Wirtschafts­imperien. Darüber haben Sie in Ihren Zeitungen vermutlich nichts gelesen, oder?“

Werner fühlte sich wie ein kleiner Junge, der vom Schul­direktor eine Standpauke erhält. Wie hatte die Zürcher Kellnerin gesagt?

Forschen Sie mal im Internet nach, für wen die Konstrukteure dieses privaten Rentensystems früher gearbeitet haben.

Der Major ergriff wieder das Wort: „Haben Sie gewusst, dass die USA fünf Milliarden Dollar für einen politischen Wechsel in der Ukraine investiert haben?“ – „Wer behauptet das?“ fragte Werner trotzig. „Nun, die zuständige Mitarbeiterin des US-Außen­minis­te­ri­ums.“ – „Das haben die selbst gesagt?“ – „Das überrascht Sie? Stand wohl auch nicht in Ihren Zeitungen?“ Der sich ansonsten korrekt und nüchtern verhaltende Offizier konnte sich nun einen Anflug von Häme nicht verkneifen. „Und der amerikanische Prä­si­dent selbst hat in einem Fernsehinterview bestätigt, dass die USA aktiv am Putsch in der Ukraine beteiligt waren. Können Sie sich erinnern, so etwas jemals über Russland gehört zu haben?“

Werner konterte sofort: „Die ukrainische Regierung meldete kürzlich, dass bei Kampfhandlungen russische Soldaten fest­ge­nommen wurden, die auf Seiten der Separatisten gekämpft haben!“ Der Major parierte kühl: „Und wenn es so wäre? In der Nähe von Logwinowo kämpften polnische, französische, britische und amerikanische Söldner auf der Seite der ukrainischen Truppen. Sie wurden übrigens von den Volksmilizen eingekesselt. Also wo ist da der Unterschied? So ist das nun mal, Krieg ist ein schmutziges Geschäft, leider, möchte ich hinzufügen!“

„Und was ist mit der Krim? Die hat sich Russland ja wohl eindeutig unter den Nagel gerissen, oder anders formuliert – annektiert.“ Der Major seufzte: „Tja, die Krim. Ob man das nun als Annexion oder freie Entscheidung der überwiegend russisch­stämmigen Einwohner betrachten sollte, darüber mag man sich streiten. Doch ich bin sicher, es wäre allen Beteiligten lieber, wenn das nicht nötig gewesen wäre. Spielen Sie Schach?“

Werner versuchte krampfhaft herauszufinden, worauf die Frage wohl hinauslief. Der Major redete bereits weiter: „Die Politik des Westen hat die Situation hier gefährlich verschärft. Unser Verhältnis zur Ukraine war nie besonders gut, doch der von euch unterstützte Putsch hatte die Lage hier erst wirklich explosiv gemacht.“

Werner fasste sich wieder und fragte: „Wer ist euch? Ich habe damit nichts zu tun. Ich interessiere mich auch nicht sonderlich für Politik.“ Die offenherzige Kellnerin aus Zürich kam ihm erneut in den Sinn – Parteien, die den ganzen Mist eingebrockt haben, werden trotzdem immer wieder gewählt.

„Vielleicht wäre es aber besser, wenn Sie sich mal für Politik interessieren“, unterbrach der Major Werners Erinnerungen. „Also, was ist nun, spielen Sie Schach?“ – „Ich weiß, wie die Figuren bewegt werden, aber Strategie ist nicht so meine Stärke.“ Der Major schüttelte verständnislos den Kopf: „Am besten wäre es, keine der Seiten berührt die Figuren. Dann kann zwar keiner gewinnen, aber auch keiner verlieren. Doch wenn eine Seite einen Zug macht, muss die andere reagieren. Sie können offensiv oder defensiv spielen. Aber am Ende müssen Sie ziehen, die Figuren des Gegners schlagen, sonst verlieren Sie das Spiel. In den letzten fünf­und­zwanzig Jahren, nach dem Ende des kalten Krieges, hat sich die NATO entgegen den Vereinbarungen vom Frühjahr 1990 immer weiter nach Osten ausgedehnt. Heute wird darüber nachgedacht, die Ukraine mit aufzunehmen, in unseren Nachbarländern finden NATO-Manöver bedrohlich dicht an der Grenze zu Russland statt. Das ist für uns ein höchst beunruhigender Zustand! Und in Polen sollen Abwehrraketen stationiert werden.“ – „Die sind doch nicht gegen Russland, sondern gegen den Iran gerichtet“, warf Werner ein. „Haben Sie‘s überprüft?“ fragte der Major zurück. Er blätterte erneut im Reiseatlas, drehte ihn zu Werner hin und tippte auf eine Übersichtskarte. „Hier ist der Iran. Wenn dessen Raketen angeblich Europa bedrohen“, dabei grenzte er mit beiden Händen den Kon­ti­nent von Lissabon bis Moskau ein, „was meinen Sie wäre dann wohl der günstigste Ort, um Abwehrraketen aufzustellen, die ganz Europa schützen könnten?“ Werner betrachtete die Lage interessiert, dann gab er kleinlaut zu: „Tatsächlich, Sie haben recht! Die Türkei wäre ein viel besserer Standort, wenn man die Raketen möglichst frühzeitig abfangen möchte. Und Polen wäre“, er schaute die umliegenden Länder und die weite Entfernung zum Iran an, „nun ja … eher gar nicht geeignet.“ – „Richtig! Und zudem ist auch die Türkei NATO-­Mitglied, es sollte eigentlich keine Schwierigkeiten geben. Was haben Sie daraus nun gelernt?“ Der Major lieferte die Antwort gleich nach: „Überprüfen Sie‘s! Hinterfragen Sie alles! Glauben Sie nicht mir, glauben Sie auch nicht den Medien, weder Ihren noch unseren. Machen Sie sich immer Ihr eigenes Bild!

Und nun noch mal zur Krim. Sie ist strategisch sehr wichtig für uns. Eine vorgelagerte Halbinsel, die von außen schwer anzu­greifen, dafür aber gut zu verteidigen ist. Und ein praktisch unsinkbarer Flugzeugträger. Dort liegt unsere Schwarzmeerflotte, sie garantiert uns einen schnellen Zugang zum Mittelmeer über Istanbul.

Wir könnten sie auch nach Noworossijsk verlegen, aber das liegt bereits 500 Kilometer weiter östlich. Zur Abwehr eines NATO-­Angriffes auf Russland ist die Lage der Krim geeigneter. Unsere Truppen könnten von dort aus feindliche Armeen besser von mehreren Seiten in die Zange nehmen. Ihr Deutschen habt doch selbst den Kessel von Stalingrad erlebt. Für so etwas ist eine Halbinsel wie die Krim ideal.“ Dabei tippte er auf die Karte und klappte dann den Atlas wieder zu.

„Wir hätten am vorherrschenden Status Quo niemals gerüttelt, aber die westliche Intervention in der Ukraine hat uns leider keine Wahl gelassen. Das meinte ich mit dem Schachspiel. Der Westen hat einen Zug gemacht, den wir nicht unbeantwortet lassen konn­ten, sonst hätte uns das in eine noch schwierigere Lage gebracht. Jetzt ist der Westen nicht zufrieden mit dem Ergebnis und jammert herum, wie ein Schulhofschläger, der überraschender­weise selbst eins auf die Mütze gekriegt hat und nun damit nicht fertig wird. Ihr mit euren ganzen Stiftungen und Nichtregierungs­organisationen! Mischt euch in die Geschicke anderer Staaten ein wie Amateure, die Monopoly spielen! Dabei gäbe es in euren eigenen Ländern genug zu tun! Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Gewalt. 35 Millionen Ameri­kaner sind vom Hunger bedroht und würden ohne Suppenküchen nicht überleben! Haben Sie das gewusst? Das ist doch totaler Irrsinn! Die amerikanische Regierung bringt nicht nur Menschen in anderen Ländern um sondern auch ihre eigenen.“ In seiner Stimme lag jetzt schneidende Verachtung und maßlose Enttäuschung.

„Und jetzt stellen Sie sich das Ganze zum besseren Verständnis mal umgekehrt vor: Der Sozialismus hätte vor fünfundzwanzig Jahren gesiegt und die Staaten des Warschauer Vertrags hätten sich nach Westen bis Mittelamerika ausgedehnt, Kuba und Mexiko integriert. Hätten in Kanada einen Putsch unterstützt und würden nun an der kanadisch-amerikanischen Grenze Abwehrraketen gegen iranische Angriffe installieren.“ Bei dem Gedanken musste nun auch Werner verlegen lächeln. Der Major vervollständigte das verstörende Szenario mit der Frage: „Was glauben Sie, wie würden die USA wohl reagieren?“

Doch in Werner erwachte schon wieder der Rebell. Ihm brannte noch eine Frage auf der Zunge, er rang mit sich, ob er es riskieren sollte, sie zu stellen. Der Major schien ihm das anzusehen und fragte: „Was wollen Sie?“ Werner nahm seinen Mut zusammen, ein letzter Aufstand: „Und was war mit Tschetschenien?“

Der Offizier zuckte nur kühl mit den Schultern: „Da haben Sie so ein teures, hochmodernes Mobiltelefon mit superschneller Internet­anbindung an das gesamte Wissen der Menschheit in der Jacken­tasche und trotzdem fragen Sie mich? Warum soll ich Ihnen jetzt die Welt erklären? Finden Sie‘s gefälligst selbst raus!“

Nachdem Werner von Major Wolkow wieder über die Grenze in die Ukraine zurückgeschickt wurde, muss er sich nach einer Alternativroute umsehen. Er findet sie in Mariupol in Form eines Fischfangkutters, der ihn nach Georgien bringt, von dort fliegt er im Doppeldecker weiter nach Aqtau in Kasachstan. Ein Kasache, der Werners Auto stellvertretend durch Russland bis nach Kasachstan gefahren hat, empfängt Werner bei sich zu Hause, besorgt ihm ein Visum für Russland und übergibt ihm sein Fahrzeug, mit dem Werner sich auf die Reise durch die kasachische Wüste macht:

Ocker, Kurkuma, Lehm, Mais. Im Geiste ging Werner alle Gelbsorten durch, die er kannte. Nein, die waren ausnahmslos kraftvoll und erheblich farbiger als die Landschaft, die gerade an ihm vorbeizog. Barytgelb vielleicht? Wohl eher Sandgelb! Die Straße, die Böschung, die sandige, weite Ebene, die gelegentlich auftauchenden Hügel und natürlich auch die vereinzelten kleinen Dünen – alles sah hier gleich aus. Mitunter tauchte mal ein sandgelbes Häuschen am Horizont auf, doch aus der Nähe betrachtet, waren es nur alte, verfallene Lehmkaten, meist ohne Dach, verlassen und vergessen. Wofür mögen sie gedient haben, so einsam hier draußen? Vielleicht als Bushaltestelle? Aber wer hätte weshalb hierherfahren wollen? Hier gab es nichts als Staub. Staubgelb! Ja genau, das passte perfekt!

Nach etwa fünf Stunden wurde Werner langsam unruhig. Er verließ die staubgelbe Piste und hielt kurz an einem staubgelben Plätzchen, das sich nur dadurch etwas abhob, weil es mit einem etwas helleren Staubgelb eingefärbt war, als die restliche Umgebung. Werner öffnete das von Marat übergebene Päckchen und fand darin ein gutes halbes Kilo staubgelber Kekse, natürlich selbstgebacken, frisch und überaus köstlich! Mit einem Mal kam ihm die Umgebung viel weniger trostlos vor.

Nach weiteren fünf Stunden war von diesem kurzen Anfall guter Laune schon nichts mehr übrig. Was für ‘ne bescheuerte Idee, diese lange Strecke mit einem Auto zurücklegen zu wollen! Wie kann man nur so dämlich sein! Werner fluchte laut vor sich hin, was aber niemanden störte, denn er war ganz allein. Seit heute früh war ihm kein einziges Fahrzeug begegnet, außer ein am Straßenrand vor sich hinrostendes Panzerwrack, vermutlich ein Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg.

Die Nacht verbrachte er in Aqtöbe, in einem zugigen, kalten Hotel ohne Flair und Ausstrahlung. Immerhin – das Zimmer war sauber und die Dame an der Rezeption gab ihm noch den guten Rat

mit auf den Weg, vor dem Grenzübertritt zu tanken, da die Preise hier etwas niedriger seien als in Russland.

Ungeachtet dessen war der Weg bis zur Grenze noch endlos weit, zumindest aber kam es Werner so vor, die Landschaft war nach wie vor eintönig und öde, nichts als Staub und Steine, kein einziger Baum, kein Strauch, anfangs wenigstens, denn an einigen Stellen der Strecke waren plötzlich Bäume gepflanzt, offenbar absichtlich von Menschenhand, freiwillig täte hier kein Baum von selber wachsen wollen, schon aus Angst, dass ihm vor Langeweile die Rinde schuppig würde, und schon hinter der schmalen Baum­reihe deutlich sichtbar, erstreckte sich wieder die öde, wüste Weite, man könnte auch sagen, die weite öde Wüste oder die wüste, weite Öde, es würde keinen Unterschied machen, die endlose Fahrt würde weder durch das eine noch durch das andere irgendwie aufge­wertet, eine unerträglich lange Aneinanderreihung von staubgelben Staubkörnern, Steinen, selbstgepflanzten Bäumen und un­spek­ta­ku­lären Ereignisvakua, fast so wie ein zermürbend langer Satz mit einem unaufhörlichen Schwall von Worten in einem entmutigend dicken Buch, der einfach nicht enden will.

Offenbar waren die Grenzbeamten da ganz anderer Meinung und betrachteten Werners Ankunft als Störung ihrer genussvollen Wahrnehmung des aus ihrer Sicht nervenzerfetzend spannenden Ambientes. Oder sie hatten ihren Gemütszustand an die Ereignislosigkeit ihrer Erlebniswelt angepasst und wollten nun von dem mit hektischen zwanzig Kilometern pro Stunde heranrollenden Militärjeep nicht aus der wohlverdienten Ruhe gebracht werden. Vielleicht waren sie aber auch nur müde, denn die Zeiger der Wanduhr hinter ihrem Rücken zeigten bereits nach Mitter­nacht. Jedenfalls sahen sie in dem Identitätschaos in Werners Dunstkreis anscheinend keinen Widerspruch und hinterließen wortlos ihre Stempelmarke in seinem Pass. Dann durfte er einreisen.

Werner durchquert Russland, besucht die Orte Omsk, Nowosibirsk und Sljudjanka und staunt über die unfassbare Weite Sibiriens. Nahe Wladiwostok, nach einem Unfall, gerät er mit drei Halunken aneinander, was seinem Leben eine dramatische Wendung geben wird:

Der Abgrund kam vollkommen unerwartet. Mit einem Satz sprang der Wagen vier Meter in die Tiefe. Der heftige Schlag raubte Werner die Sinne, nur mit dem letzten verbliebenen Funken seines Be­wusst­seins realisierte er, dass es äußerst ratsam wäre, jetzt energisch die Bremse zu treten. Tatsächlich verringerte dies die Bewegungs­energie ausreichend stark, um den alten Baum, der zudem nicht mehr fest verwurzelt in der Erde steckte, nicht mit voller Kraft zu rammen und schlimmere Schäden am Fahrzeug zu vermeiden.

Als Werner sich wieder gefangen hatte, sortierte er zunächst seine Gliedmaßen, bewegte vorsichtig Rücken und Nacken, um herauszufinden, ob er ernstlich verletzt war. Füße, Hände, Rippen – alles in Ordnung, nur der Kopf schmerzte ein wenig. Dann stieg er aus und inspizierte sein Auto. Das äußerste rechte Ende der vor­deren Stoßstange war am Berührungspunkt mit dem Baum leicht verbogen, ansonsten konnte er keine weiteren Schäden entdecken. Federn, Stoßdämpfer, alles schien noch intakt zu sein. Er schaute den steilen Abhang hinauf und konnte kaum glauben, dass er diesen Sprung überlebt hatte. Das Gelände war leicht abschüssig, wie bei einem Extrem­skispringer hatte das wohl die Energie des Aufpralls umgelenkt.

Werner versuchte den Motor anzuwerfen, doch der gab keinen Mucks von sich. Na toll, also doch ein Defekt! Ein Blick unter die Motorhaube brachte keinerlei Erkenntnisse, denn er kannte sich mit Autos überhaupt nicht aus. Schmutzige Finger waren nicht seine Sache, er überließ das Basteln lieber den Werkstätten. Jetzt, in diesem Augenblick, bereute er die Wissenslücke. Gestrandet mitten im Nirgendwo!

Er sah sich um, schaute den Abhang hinunter und entdeckte zwischen Bäumen und Gestrüpp einen hellen Streifen. Unten ange­kommen, verwandelte sich der Streifen in einen sandigen Waldweg. Immerhin ein Funke Hoffnung, ein Pfad zurück in die Zivilisation.

Werner kletterte den Abhang wieder hinauf und versuchte das Fahrzeug etwas zurückzuschieben und an dem Baum vorbei­zu­len­ken. Eine knifflige Aufgabe, denn der schwere Geländewagen ließ sich nur mit äußerster Kraft bewegen. Doch wenige Zentimeter und das bis zum Anschlag eingedrehte Lenkrad reichten aus, um an dem Baum vorbeifahren zu können. Der UAZ setzte sich langsam in Be­we­gung und rollte den Abhang hinab. Werner sprang durch die ge­öff­ne­te Fahrertür auf den Sitz und betete inständig, die Bremsen mögen funktionieren. Er hatte Glück. Vorsichtig steuerte er um Bäu­me und Büsche herum und rollte schließlich auf dem Waldweg aus.

Was nun? Er inspizierte noch mal alle Bauteile im Motorraum, die ihm irgendwie bekannt vorkamen, doch brachte dies den Motor nicht wieder zum Laufen. Abschleppservice! Die Freude über den genialen Einfall verpuffte beim Anblick der Verbindungs­warnung

seines Handys. Natürlich gab es hier draußen kein Netz. Er blickt auf die Karte, versuchte grob seine Position abzuschätzen und fand die nächste Ortschaft etwa zehn bis fünfzehn Kilometer entfernt. Vielleicht lässt sich der Wagen ja ein Stück in die Richtung schie­ben? Als das Gelände nach ungefähr zweihundert Metern wieder leicht anstieg, gab er schweißgebadet auf.

Schneefall setzte ein, als die Dämmerung hereinbrach. Werners Entscheidung, im Auto zu übernachten oder zu Fuß nach Hilfe zu suchen, erübrigte sich plötzlich im Scheinwerferkegel eines von hinten rasch näherkommenden Fahrzeugs.

„Na, Kumpel, gibt‘s Probleme?“ Die schneidende Stimme hatte etwas Verschlagenes, Hinterhältiges und gehörte dem Fahrer des herunter­gekommenen Lkws. Nachdem er die Tür geöffnet hatte und ausgestiegen war, zeigte sich, dass sein pfau­en­haf­ter Gang ge­nau­so abstoßend war, wie seine Stimme. Aus der Beifahrertür stiegen zwei weitere Männer, der eine war lang und schlaksig und sprach kein Wort. Der zweite war ein eher kleiner, aber kräftiger Typ mit hellen Augen und kahlrasiertem Schädel. Er plapperte munter drauf los: „Nun mach mal dem armen Kerl keine Angst, guck mal, der sieht schon ganz misstrauisch aus. Was haste denn, Kumpel?“ Der Fahrer mit der fiesen Stimme war schlank und drahtig, mit einem ausge­mer­gel­ten, hohlwangigen Gesicht, nikotingelber, unreiner Haut und einem öligen Pferdeschwanz. Er grinste süffisant, hielt sich aber im Hintergrund, den Ellenbogen auf der Motorhaube seines Lkws abgelegt.

„Na dann mach doch mal die Klappe vorne auf!“ Der kleine Kräftige schaute nach dem Motor, kontrollierte Elektrik und Kabel und überprüfte die Anschlüsse. „Das hier müsste es sein“, ver­kün­de­te er und führte einen Stecker wieder zurück an seinen Platz. „Probier mal!“ Werner stieg auf den Fahrersitz und betätigte die Zündung. Der Motor sprang sofort an. „Wahnsinn!“ Begeistert stieg er wieder aus dem Fahrzeug, um sich bei dem Mann zu bedanken.

Er sah den Schlag nicht kommen. Ein harter Gegenstand traf Werners Kopf völlig unerwartet und mit voller Wucht. Er prallte gegen die Dachkante seines Autos, knickte weg und schlug lang hin. Der drahtige Typ hatte sich ihm von hinten genähert und einen Stein seitlich gegen den Kopf geschlagen. Die nachfolgenden Schläge und Tritte nahm Werner kaum noch wahr.

Ein Motorengeräusch entfernte sich, dann ein zweites, bis schließlich nur noch Stille war. Zwischen den schwarzen Baum­wipfeln, über dem Weg, leuchtete in sanftem Dunkelgrau der Himmel und entließ seine weißen Flocken hinunter in die Nacht.

Ich kann den Schnee knistern hören, dachte Werner, als ihm langsam das Bewusstsein schwand.


Das Ende der Welt steht nun unmittelbar bevor. Wird Werner gerettet? Und von wem?
Die Antwort finden Sie im Buch.